Einer von uns

Er war einer der besten Techniker, die der deutsche Fußball hervorgebracht hat. Echter Zehner, Spielmacher mit Offensivdrang - und italienischem Temperament. Durchaus auch schillernd, immer gut für Überraschungen. Als Maurizio Gaudino beim ABT Besuch seine Rennlizenz zückt, stellt sich die Frage: 

WAS WÄRE GEWESEN, WENN...?

Ein gelb-schwarzes „Monster“ lauert an diesem Tag zur Endkontrolle im Lichtkanal der Veredelungsschmiede. Schön und sehr selten, eines von nur 99 Exemplaren der „Scatenato“-Sonderserie, die ABT auf Basis des Lamborghini Urus aufgelegt hat. Sportmarketingchef Harry Unflath bemerkt sofort die Begeisterung seines prominenten Gastes: „Soll ich ihn mal anlassen?“ Ein tiefes Grollen aus dem auf 840 PS getunten 4,0-Liter-V8-Biturbo-Motor lässt Gaudinos Augen noch mehr leuchten. „Wahnsinn, brutal!“, ruft er. „Das ist genau meine Welt! Wenn ich ein tolles Auto sehe, ein solches Geräusch höre – da kriege ich Gänsehaut. Wie wenn einer ein schönes Tor schießt. Wäre ich nicht Fußballer geworden, dann Automechaniker. Oder Rennfahrer. Das war mein Traum.“ Seine Leidenschaft lebt der 57-Jährige heute vornehmlich auf den Straßen und Autobahnen Süddeutschlands aus, solide in einem Škoda Oktavia, seinem Firmenwagen. „Rund 75 000 Kilometer im Jahr fahre ich. Als meine Eltern noch lebten und ich mich um sie gekümmert habe, waren es bis zu 90.000“, erzählt Gaudino.

Mit seiner zweiten Frau Wiebke und seinem jüngeren Sohn Massimiliano (13) lebt er seit elf Jahren bei München, seine Heimat aber ist Mannheim und sein Büro ist in Stuttgart. Tochter Giulia (29) aus erster Ehe ist erfolgreiche Medizinerin in München, Sohn Gianluca (27), der 2014/15 unter Trainer Pep Guardiola Meister mit dem FC Bayern wurde (acht Bundesliga-Einsätze), spielt in der 2. Österreichischen Liga.

Lieber frischen Kaffee verkaufen als Kalten aufwärmen

Vornehmlich in Sachen Kaffee ist Gaudino als selbstständiger Unternehmer auf Achse. Er importiert die Bohnen, lässt sie rösten und beliefert mit seiner eigenen Marke „Mauri & Pepe“ Restaurants und große Firmen wie etwa Würth. Zudem ist Gaudino, der auch schon als Trainer und Sportdirektor arbeitete, Inhaber einer Sportmarketing-Agentur. Er unterstützt junge Talente. Wer wie ABT Sportmarketingchef Harry Unflath und ABT CEO Thomas Biermaier an diesem Nachmittag die Chance hat, den Vielbeschäftigten mal ein paar Stunden in Ruhe zu treffen, der hört von diesem sympathischen, bodenständigen Menschen Geschichten, die ein Buch womöglich zum Bestseller machen würden. So viel hat er erlebt. Gaudino lacht bei dieser Bemerkung. „Auf keinen Fall“, sagt er. „Das wäre nur dann ein gutes Buch, wenn ich schonungslos alles schreiben würde. Aber ich will weder alte Geschichten aufwärmen noch Menschen mit Kritik zu nahe treten. Kritik wird oft zu persönlich genommen.“ Dies ist auch ein Grund dafür, dass der meinungsstarke Gaudino nur selten Einladungen zu Talksendungen im TV annimmt. „Manchmal muss ich aufpassen, mein Temperament zu zügeln, wenn man mich über Fußball fragt.“

„Manchmal muss ich aufpassen, mein Temperament zu zügeln, wenn man mich über Fußball fragt.“

Maurizio Gaudino

Und die alten Geschichten wie die Suspendierung bei Trainer Jupp Heynckes in Frankfurt, oder die Sache mit der Bewährungsstrafe wegen Versicherungsbetrugs mit als gestohlen gemeldeten Autos – diese Dinge liegen 30 Jahre zurück. Lack drüber!

Kinderzimmer Hockenheimring

Seine Liebe zum Motorsport wurde Gaudino quasi in die Wiege gelegt. Beziehungsweise die Wiege an eine legendäre Rennstrecke gestellt: Hockenheim. Als jüngster von fünf Brüdern einer aus dem süd-italienischen Kampanien eingewanderten Familie – Vater Antonio LKW-Fahrer, Mutter Maria-Antonia Schichtarbeiterin bei Lever Sunlicht – wurde Gaudino 1966 in Brühl geboren, im Rheinau wuchs er auf. Beide Orte liegen nur wenige Kilometer von der berühmten Strecke entfernt. „Mit meinen Brüdern und Freunden sind wir oft auf unseren Fahrrädern durch den Wald zum Ring gefahren, man hörte schon von Weitem die Motoren, das war damals noch die alte Formel-1-Strecke“, erzählt er. „Heimlich sind wir unterm Zaun durchgekrochen, um Auto- und Motorradrennen zu schauen. Mich hat’s sofort gepackt, eine Faszination, die mich nie mehr losgelassen hat. Klar war ich Ferrari-Fan.“ Nach der Schule begann Gaudino mit Eifer eine Mechaniker-Lehre („Meinen ersten Ansaugstutzen habe ich mit 15 gebaut“), die er jedoch nach nur einem Jahr abbrach. Weil er neben Geschick an der Werkbank eine weitere technische Hochbegabung besaß – am Fußball. Bereits 1980 war er von der TSG Rheinau in die B-Jugend des damaligen Zweitligisten SV Waldhof Mannheim gewechselt, für den er 1984 mit erst 17 Jahren unter Trainer-Legende Klaus Schlappner („Er nannte mich immer Gaucho“) sein erstes von 294 Bundesligaspielen für insgesamt vier Klubs bestritt.

„Das war natürlich ein Traum. Aber ich wäre auch gerne Rennfahrer geworden, war oft auf der Kartbahn in Waldorf“, erinnert er sich. „Aber diesen Weg zu finanzieren war für meine Eltern unmöglich. Als junger Profi habe ich mir dann ein Renn-Kart zugelegt, auch als Ausgleich zum Fußball. Jahre später bin ich dreimal für Mitsubishi 24-Stunden-Rennen auf dem Nürburgring gefahren, war sogar Dritter in der seriennahen Klasse. Und einmal Achter bei einer Rallye."

Das ist der Moment, in dem Gaudino seinen Gastgebern die Rennlizenz zeigt. „Eine schöne Erinnerung. Leider ist sie abgelaufen, ich habe sie zuletzt nicht mehr erneuert.“ Harry Unflath nutzt die Gelegenheit, eine Einladung auszusprechen: „Du bist sowieso ein Racer, einer von uns. Komm mal mit an die Strecke, zur DTM, zu den 24 Stunden, zur Formel E – wie du magst.“ Natürlich nimmt Gaudino an. Schwer zu sagen, was gewesen wäre, wenn … aber spannend, von Gaudino selbst zu hören, was gewesen ist.

Ein grandioser Titelgewinn

1992 war er mittendrin im wohl spannendsten Meisterkampf der Bundesliga aller Zeiten. Am letzten Spieltag konnten es noch drei punktgleiche Klubs schaffen. Tabellenführer und Top-Favorit Eintracht Frankfurt verlor völlig unerwartet bei Absteiger Rostock 1:2. Borussia Dortmund gewann zwar in Duisburg 1:0 – nutzte aber nichts, weil der Klub mit der zuvor geringsten Chance den Titel holte: Gaudinos Stuttgarter. Lebhaft, als wäre es gestern gewesen, erzählt er: „Auswärts mit zehn Mann, Sammer sieht in der ersten Halbzeit Rot. Und das nach 0:1 in Leverkusen, beim stärksten Gegner. Per Elfmeter macht Fritz Walter das 1:1. Und kurz vor Schluss flankt Wiggerl Kögl, Guido Buchwald köpft das 2:1 für uns. Unglaublich! Manchmal kann ich es heute noch nicht realisieren, dass wir Meister geworden sind.“ Die Ernüchterung folgte, als der Meister-VfB in der Qualifikation zur Champions-League am englischen Meister Leeds United scheiterte. Nach 3:0 im Hinspiel hätte das 1:4 im Rückspiel zwar exakt gereicht, doch um das Ergebnis zu halten, wechselte VfB-Trainer Christoph Daum Gaudino aus – und mit dem serbischen Verteidiger Jovica Simanic den damals verbotenen vierten Ausländer ein. „Wir haben alle noch gerufen, dass er wechseln soll, weil wir so unter Druck standen“, erinnert sich Gaudino. Das nach dem Regelverstoß notwendige Entscheidungsspiel verlor Stuttgart mit 1:2. Gaudino wechselte 1993 nach Frankfurt, zu jener Mannschaft, die in der Hinrunde die Bundesliga spielerisch so sehr dominierte, dass sich Trainer Klaus Toppmöller zu seinem berühmt-überheblichen Spruch hinreißen ließ: Bye-bye Bayern! „Wir waren wahrscheinlich die beste Mannschaft, die Eintracht je hatte, mit Bein, Binz, Weber, Okocha, Yeboah“, erinnert sich Gaudino: „Aber auch der erste Herbstmeister, der nicht Meister wurde, sondern nur Fünfter. Weil sich Grüppchen bildeten, wir nicht mehr als Mannschaft agierten. Zudem verletzte sich Yeboah, fiel länger aus.“ Meister wurden 1994 die Bayern. Hello again!

Plastiktütengeld und Land als Lohn

Nur die wenigsten wissen, dass Gaudino selbst für den FC Bayern auflief, allerdings erst nach der Profi-Karriere. „Für die Legenden-Mannschaft, die damals unter ‚FC Bayern and Friends‘ antrat. Es war eine große Ehre für mich als Nicht-Ex-Bayern-Profi. Paul Breitner, der das organisierte, hatte mich angesprochen“, erzählt Gaudino und lacht: „Ich hatte ihn zufällig in München getroffen – an einer Tankstelle.“ Zum VfB und zur Eintracht, für die er später noch in der 2. Liga spielte, hat Gaudino einen besonders „persönlichen Bezug, weil es die beiden Klubs waren, bei denen es am meisten Spaß und Laune gemacht hat.“ In Stuttgart hatte er sogar acht Jahre lang mit einem Geschäftspartner eine Loge. „Und trotz der turbulenten Zeit in Frankfurt liegt mir die Eintracht mit ihren klasse Fans sehr am Herzen, da ich dort mit den schönsten Fußball gespielt habe. Ich habe bei allen meinen Vereinen tolle Menschen kennengelernt, mit denen ich teilweise noch eng in Verbindung stehe. Und ich habe viele unvergessliche Geschichten erlebt.“ Etwa in Mexiko City, wo er 1996 für den Club América spielte. „Das legendäre Aztekenstadion war plötzlich mein Heimstadion“, sagt er. „An die dünne Luft in der Höhenlage musste ich mich gewöhnen, anfangs war mir nach dem Aufwärmen immer schwindelig.“ Gewöhnungsbedürftig war noch viel mehr: „Auf jedem Flug, in jedem Hotel war Security dabei. Und unser Trainingsgelände war von einer Mauer umgeben, an die Fans mit Kleinbussen heranfuhren und auf sie hinaufkletterten, um beim Training zuzusehen. Einmal im Monat kam durch das große Tor ein gepanzerter Geldtransport. Oft kriegten wir Schecks, manchmal aber das Geld in Tüten. Dann immer mit der Warnung, auf dem Heimweg vorsichtig zu sein, weil ja die Leute jetzt wüssten, dass wir Bares dabeihaben. Zum Glück ist nie was passiert.“ Oder bei Antalyaspor in der Türkei, wo er gegen Ende seiner Karriere drei Jahre spielte. „Über Nacht wurde die türkische Lira massiv abgewertet. Das führte dazu, dass der Verein nicht mehr zahlen konnte. Der Bürgermeister, der damals Vereinspräsident war, bot mir als Ersatz ein Dünen-Grundstück an. Wenn es mal Bauland würde, wäre es mehr wert, als der Verein mir schulde. Ich lehnte ab. Heute stehen dort schöne Hotels, direkt am Strand an der Straße nach Belek. Traumhafte Gegend. Es wäre ein guter Deal gewesen. Aber ich trauere ihm nicht nach.“ Selbstbelustigt zuckt er mit den Schultern.

Maurizio Gaudino in Kürze

Geburtstag 12. Dezember 1966

Geburtsort Brühl Verheiratet mit Wiebke, ein gemeinsamer Sohn, zwei ältere Kinder aus der 1. Ehe

Berufe abgebrochene Kfz-Lehre, Fußballprofi, Unternehmer (Sportmarketing, Kaffee)

Stationen als Spieler

  • 1984–1987 Waldhof Mannheim (60 Spiele/9 Tore)
  • 1987–1993 VfB Stuttgart (171/24)
  • 1993–1995 Eintracht Frankfurt (75/16)
  • 1995 Manchester City (21/4)
  • 1996 Club Americá (15/1)
  • 1997–1998 FC Basel (20/2)
  • 1999–2002 Antalyaspor (55/8)
  • 2003–2005 Waldhof Mannheim (19/0) Nationalmannschaft
  • 1985–1987 Deutschland U21 (6/2)
  • 1993–1994 Deutschland (5/1), WM-Teilnahme Stationen als Funktionär u. a. Sportlicher Direktor bei den Regional- und Oberligisten Waldhof Mannheim, SG Sonnenhof Großaspach, SSV Reutlingen, Wacker Nordhausen

Sonstiges

1996 Gastauftritt in der preisgekrönten Fernsehserie Der Schattenmann

Seinen Platz im Leben gefunden

Gaudino hat trotz zahlreicher Höhen und Tiefen längst die Mitte gefunden im Leben. Wer ihn genauer kennt, weiß, dass er der beste Freund ist, den man sich wünschen kann. Zuverlässig, hilfsbereit, besonders in der Not. Und sei der Weg noch so weit. Dass, gemessen an seinem fußballerischen Talent, seine Karriere glänzender dekoriert sein könnte, als mit einer Deutschen Meisterschaft, nur fünf A-Länderspielen und einer WM-Teilnahme ohne Einsatz, kommentiert er sachlich: „Meine Bilanz ist positiv. Ich stehe zu allen meinen Entscheidungen, auch wenn sich manche als falsch erwiesen haben. Ich bin ein Mensch, der nach vorne schaut, das war schon als Spieler so. Für die WM 1994 war ich sehr früh nominiert worden von Berti Vogts, aber leider hat’s nicht sein sollen, dass ich eingesetzt wurde. Unabhängig von der Leistung gehören immer zwei dazu. Gegen Bulgarien sind wir leider rausgeflogen, meiner Meinung nach mit einer sehr, sehr, sehr starken deutschen Nationalmannschaft, die damals die große Chance hatte, den WM-Titel von 1990 zu wiederholen.“ Gaudino sieht Parallelen zur heutigen DFB-Auswahl. Eine Mannschaft mit großem Potenzial, das sie zu selten abruft. „Das spürst du, wenn du so was selbst erlebt hast. Unsere Offensive und Mittelfeld sind in der Lage, jede Mannschaft so auseinanderzunehmen, dass wir uns über die Defensive keine großen Gedanken machen müssten. Aber die Struktur fehlt, die mannschaftliche Geschlossenheit. Die muss Bundestrainer Julian Nagelsmann wieder schaffen. Ich freue mich auf die EM, weil wir, so wie 2006, mit dem Heimvorteil die Möglichkeit haben, den deutschen Fußball wieder in die Position zu bringen, wo er hingehört.“ Wie für den Motorsport ist Gaudinos Fußball-Leidenschaft ungebrochen groß. Besonders Leverkusen und Stuttgart lassen zurzeit sein Herz aufgehen. „Ich liebe den Fußball, wie er bei Alonso gespielt wird. Oder unter Hoeneß beim VfB“, sagt er: „Weil ich selbst so gespielt habe. Das ist die Handschrift der Trainer.“ Alonso könnte damit sogar das Double für Leverkusen signieren. Bye-bye Bayern nach elf Meisterschaften in Folge? Gaudino schmunzelt und schüttelt den Kopf: „Würde ich nie sagen. Ich habe selbst die unglaublichsten Dinge erlebt …“