Kurven ohne Ende

Fahren wie durch eine Eisenbahn-Modellbauland - schaft im XXXL-Format: Das empfinden viele Touristen beim Reisen durch die Schweiz. Weil alles so akkurat und niedlich wirkt und es so viel Sehenswertes komprimiert auf so wenig Fläche zu entdecken gibt. Das Wohlgefühl verspielter Kinderzimmertage ist am Grenzübergang Bietingen/Thayngen gleich da. Per Auto kommen wir aus dem „großen Kanton“. So nennen die Schweizer Deutschland ja gern bissig wie bewundernd. Das geknurrte „Grüezi“ des Zöllners kann unsere Freude nicht ausbremsen. Die kräftige Frühlingssonne wärmt sanft Haut, Haar und Herz. Außerdem haben wir alles Nötige am Wagen und auf der Pfanne: die Jahresvignette für die Schweizer Autobahnen und die Tempolimits im Staate der Blitzweltmeister und Bußgeldchampions.

Im höchsten helvetischen Norden starten wir unsere Rundreise durchs Land der Eidgenossen. Grand Tour of Switzerland heißt der seit 2016 ausgewiesene Roadtrip durch alle 26 Kantone und vier Sprachregionen. Die Routen-Empfehlung umfasst rund 50 Schweiz-Highlights und 13 UNESCO-Welterbestätten. 650 Wegweiser, eine gedruckte wie digitalisierte Landkarte und eine App bieten schnell und leicht Orientierung auf den insgesamt 1.643 Kilometern. Wir haben 1.200 bis 1.300 Kilometer geplant, verteilt auf zehn Tage.

Erfrischender Rheinfall

Wildes Rauschen, weißes Schäumen, feuchte Schwaden: Der Rheinfall von Schaffhausen empfängt uns auf seine urige, gut 15.000 Jahre alte Art. Die ins Gesicht wehenden Wassertröpfli wirken noch erfrischender als die erste Rivella-Limo auf der Zunge. Nur eine knappe halbe Stunde nach der Einreise bestaunen wir die bis zu 23 Meter hohen Fluten des Rheins. Hochrhein heißt er hier, nachdem er 48 Kilometer flussaufwärts den Bodensee verlassen hat. Etwa 600.000 Liter Wasser pro Sekunde stürzen sich tosend Richtung Basel. Wir fahren entgegengesetzt weiter – Richtung Appenzell, zum ersten unserer zehn Etappenziele.

Auf dem Grand-Tour-Abschnitt Zürich-Appenzell sind wir in Schaffhausen auf den Rundkurs eingebogen und folgen ihm im Uhrzeigersinn. Weitere beliebte Zufahrten: via Basel, Genf und Chiasso. An Rhein und Bodensee entlang rollen wir durchs blühende Thurgauer Obst- und Weinland südostwärts. Unterm blitzeblanken Himmel stoppen wir in Stein am Rhein mit seiner kunstvoll bemalten Altstadt. Nächster Halt: St. Gallen, wo uns Fürstabtei, historische Bibliothek und Textilmuseum begeistern. Gemütlich ausklingen lassen wir Reisetag eins im entschleunigten Voralpendorf Appenzell. Das ein oder andere Stück vom legendären Appenzeller Käse mundet dabei auch. Die Übernachtung, wie alle weiteren, organisieren wir online (myswitzerland. com/grandtour) oder per Telefon (00800–100 200 29). Das macht uns flexibler als die vorbuchbaren Grand-Tour-Hotel-Pakete.

Heidi, Pässe, Palmen

Am nächsten Morgen gondeln wir mit der Kabinenbahn auf den Säntis, genießen vom höchsten Gipfel der Ostschweiz den Sechs-Länderblick auf Schweiz, Deutschland, Österreich, Liechtenstein, Frankreich und Italien. Im Viertel- bis Halbstundentakt folgen die nächsten Tour-Highlights: Werdenberg im oberen Rheintal, die kleinste Stadt Europas (60 Einwohner, 40 Häuser); Vaduz, die Hauptstadt des in die Route intergrieten Nachbarlandes Liechtenstein; Heididorf, die Heimatkulisse der weltbekannten Schweizer Kinderbuchheldin; die Salginatobelbrücke, ein weltbkannter Meilenstein der Ingenieurbaukunst. Vorbei an den Nobelorten Klosters und Davos über den Flüelapass, die erste der fünf über 2.000 Meter hoch gelegenen Alpen-Passrouten der Rundfahrt. So kurven wir nach St. Moritz.

Am weltbekannten Kur- und Olympiaort beginnt am dritten Tag unsere längste Etappe: rund 300 Kilometer. Ziel: Lugano. Mit den zwei nächsten Pässen mittendrin: Julier und San Bernadino. Bis auf knapp 2.300 Meter hinauf und runter auf etwa 270 Meter über dem Meer geht es – von Schneegipfeln zu Strandpalmen. All das in gut neun Stunden, inklusive der Stippvisiten in Chur, der Mutter aller Schweizer Städte, und im Drei-Burgen-Zentrum Bellinzona. Nach diesem Marathon nur noch Füße rein in Luganos See: abkühlen, ausspannen, auftanken im lässigen Italo-Summer-Flair des Tessins.

Auf James Bonds heißen Spuren

Den tiefsten und den höchsten Punkt der Grand Tour of Switzerland erreichen wir am vierten Reisetag. Vor dieser Bergtour nach Norden kurz noch der Westschwenk nach Locarno. Dort, am Nordufer des Lago Maggiore, waten wir auf bloß 193 Metern Meereshöhe durch die Wellen. Tiefer geht’s nirgends in der Schweiz. Und nach dem Furkapass mit seinen 2.429 Metern geht’s zumindest auf der Grand Tour nicht mehr höher. Bis dahin sind es aber noch fast zwei Stunden. Davor liegt die Südauffahrt des Gotthardpasses, die legendäre Tremola. Von Airolo Richtung Hospental und Andermatt nehmen wir statt der modernen Passstraße das aus Pflastersteinen gemauerte historische Baudenkmal den 24 Spitzkehren: pausenlos Kurve links, Kurve rechts. Herrlich! Uns alten Serpentinenfans wäre jetzt Handschaltung natürlich lieber als Automatik.

Ein selbst geknüppeltes Schaltgetriebe passte auch besser auf dem sich fast nahtlos anschließenden Furkapass. Bergauf wie bergab: wieder Lenkradkurbeln ohne Ende. Noch abenteuerlicher auf den zwei Fahrspuren, wo meist aber nur zwei Autos so gerade nebeneinander passen: Überholen am oft nur mit Pollern gesicherten Abgrund ist immer noch so riskant wie einst für James Bond. 1964 war der Furkapass Kulisse für die Verfolgungsjagd im Film Goldfinger der Agent-007-Reihe. All die Wohnmobile, Radler und Wanderer auf dieser Schmalspur erfordern heute extra viel Vor- und Rücksicht. Kurzer Abstecher zur Aletsch Arena mit Europas größtem Gletscher, dann heißt es in Täsch: Auto ins Parkhaus und per Bahn weiter ins autofreie Zermatt.

Nach Süden, Westen und ins Herz

Auch die Schweizer Grand-Tour-Tage sechs und sieben verpassen uns die Rundum-Reizdröhnung: im Wander-Eldorado Mattertal, beim Seilbahn-Höhenflug aufs Matterhorn, einem der Berghits weltweit. Ebenso der Weg weiter vom hohen Süden hinab in den bunten Westen: Aigle, Montreux, Lausanne, Neuenburg, Freiburg, Greyerz. An- und Innehalten lohnt sich überall. Genf und Basel im lower beziehungsweise upper Westend lassen wir diesmal aus. Osten heißt unser Kurs, nach Interlaken zwischen Thunersee und Brienzersee. Das quirlige Städtchen ist das Tor zu Wander-, Kletter-, Bikerrouten und Skipisten an Eiger, Mönch und Jungfrau, den Gipfelklassikern im Berner Oberland. Genauso lecker wie Natur und Kultur schmecken uns auch hier Käse, Gebäck und Schokolade made in Switzerland.

Bern, Luzern, Zürich sind unsere drei letzten Tagesziele. Die Hauptstadt Bern lockt mit Museen voller großer Meister. Mitten durch die sanften grünen Hügel der Löcherkäse-Heimat Emmental geht es ostwärts weiter nach Luzern am Vierwaldstättersee. Sein Ufer gilt als die Wiege der Eidgenossenschaft. Dort liegt die Rütliwiese, wo der Legende nach Wilhelm Tell und die anderen Vertreter der Urkantone Schwyz, Uri und Nidwalden vor über 700 Jahren ihren Bündnisschwur abgelegt haben gegen die Herrschaft der Habsburger. Der Blick darauf fasziniert besonders bei der Gratwanderung zum Gipfel des Fronalpstocks.

Vom Herzen der Schweiz weiter zu ihrem Motor: Zürich, die mondäne, geschäftige und doch entspanntlockere Business-, Bank- und Kunstcity mit ihrem bei jedem Wetter prächtigen See. Danach noch ins von der Industrie- zur Kulturstadt gewandelte Winterthur und durch die Weinregion Marthalen. Dann schließt sich in Schaffhausen der Kreis unserer großen, großartigen Schweiz-Rundfahrt.